Life Kinetik
Ein Bericht aus den Erlanger Nachrichten, Samstag 27.August 2022
Von Kopf bis Fuß spielend besser werden
Auch bei uns auf dem Skillcourt !
Erlanger Nachrichten, Samstag 27.August 2022
Life Kinetik Wer nicht gleichzeitig Kopf und Körper trainiert, wird nie besser werden. Ein Fitnesscoach und ein Neurologe können erklären, warum.
VON MARTIN SCHANO
Es läuft die 113. Minute des Endspiels der Fußball-WM 2014 in Brasilien, Deutschland gegen Argentinien. Der Stürmer Mario Götze nimmt nach einer Flanke von André Schürrle den Ball mit der Brust an, lenkt ihn dabei in Laufrichtung und schießt ihn im Fallen aus spitzem Winkel ins Tor. Die Zeitung Welt schwärmt damals vom „intelligentesten Tor der WM-Geschichte“, von einem „Kunstwerk, einzigartig in Ballverarbeitung, Bewegung und Kaltschnäuzigkeit“.
Ein Künstler war der damalige Jungstar Götze mitnichten, dafür aber ist er auf genau solche Szenen im Training vorbereitet worden. Denn auch im Profifußball kennen sie die Methoden der Life Kinetik. Banal formuliert, handelt es sich um eine Trainingsform, die neben der Fitness auch den Kopf fördert.
Der Fitnesscoach Zacharias Wedel etwa gibt seinen Schüler Life-Kinetik-Übungen vor, die garantiert nicht jeder sofort nachmachen kann, weil sie so komplex sind. Ein Beispiel: Wedel stellt eine Rechenaufgabe und wirft anschließend einen Ball. Ist die Lösung eine gerade Zahl, muss der Fänger mit dem rechten Bein einen Ausfallschritt machen und den Ball mit der rechten Hand fangen. Bei einer ungeraden gilt: linkes Bein und linke Hand. Nach zehnmal steigert Wedel den Schwierigkeitsgrad, indem etwa die Hände überkreuzt werden. Das ist purer Stress.
Das Gehirn ist voll auf Sendung, sodass einem nicht nur die Bewegung den Schweiß auf die Stirn treibt. Bei manchen klappt es sofort, bei einigen erst nach mehreren Anläufen, bei anderen am ersten Tag nie. „Und das ist sogar gut, denn sonst wäre die dafür nötige Synapsenverbindung schon vorhanden“, erklärt Wedel.
Mehr Vokabeln
Der Fürther trainiert keine Fußballmannschaften, sondern Individualsportler oder den Fußball-Schiedsrichter Deniz Aytekin. Die bekannte Szene mit Götze aber zieht er heran, wenn er seine Trainingsmethoden beschreiben soll. „Es gibt diese klare Anweisung für jeden Basketballer oder Fußballer: Auch wenn du keinen Ball triffst, trainier dein schwaches Bein und deinen schwachen Arm.“ Neben dem Effekt, für den Gegner schwerer ausrechenbar zu sein, und keine Disbalancen im Körper durch im wahrsten Sinne des Wortes einseitiges Training entstehen zu lassen, „wird das Bewegungsrepertoire größer. Das ist wie Vokabeln lernen“.
Wer also seinen „Wortschatz“ vergrößern und besser in seiner Sportart werden möchte, darf nicht nur auf den Korb oder das Tor zielen, sondern muss auch Gehirnjogging betreiben. „Die meisten Sportarten sind unheimlich komplex, da laufen dreidimensionale Dinge ab“, sagt Wedel, der selbst im Langstreckenlauf zuhause ist. Stundenlanges Joggen allein mache demnach noch keinen Meister, sondern einen Grobmotoriker.
„Die Effizienz ist dadurch nicht so ausgeprägt.“ Jeder Mensch sei anatomisch anders gebaut, besitze unterschiedliche Hebel im Körper, „das muss koordinativ gesteuert werden“. Wer mit Life-Kinetik-Übungen immer wieder Befehle an die entsprechenden Stellen sende, könne mehr aus sich herausholen. Übertragen auf den Fußballer Götze kann man sagen, dass er einen komplexen Bewegungsablauf mit einer komplizierten Ballannahme deshalb kombinieren konnte, weil sein Gehirn darauf vorbereitet war. „Er hatte seinen Geist für andere Aufgaben frei.“
Aus medizinischer Sicht sind in Götzes Gehirn Synapsenverschaltungen angelegt worden, Nervenzellen haben sich nach wiederholtem Gehirnjogging miteinander verknüpft. Die Wiederholungen sind deshalb wichtig, weil synaptische Verbindungen auch wieder abgebaut werden. „Das Gehirn entscheidet, was es braucht und was nicht“, erklärt Professor Dr. Jan Liman, Chefarzt der Neurologie am Klinikum Nürnberg. Er nennt ein Beispiel aus der Augenheilkunde: Man klebt schielenden Kindern wenige Stunden am Tag das „gute“ Auge ab, um das „schwache“ zu zwingen, sich zu fokussieren. In der dazugehörigen Gehirnhälfte werden nun Synapsenverbindungen aufgebaut, die vorher gefehlt haben. „Das Hirn würde das schielende Auge sonst ausblenden, so aber lernt es, auch dieses Auge zu benutzen“, sagt Liman.
Dieses Prinzip macht sich auch die Life Kinetik zu eigen, wobei Liman den Begriff gar nicht verwendet, er bricht eine Lanze für Bewegung an sich: „Durch Sport können im Blut Wachstumsfaktoren nachgewiesen werden, die Gedächtnisleistung wächst. Bei Kindern werden kognitive Leistungen stärker.“ Also Denk- und Wahrnehmungsvorgänge, die man im Sport, aber auch im Alltag nutzt. Umgekehrt führen schon 60 Minuten sitzende Arbeit zu einem Abbau kognitiver Leistungen. Und aus der Geriatrie wisse man, dass langes Fernsehschauen Demenz fördert.
Das Gemeine ist: Der Spruch „das ist wie Fahrradfahren, das verlernt man nie“, stimmt leider nicht ganz. „Wenn Sie 30 Jahre nicht Fahrrad gefahren sind, sind die Feinheiten nicht mehr im Gehirn angelegt“, sagt Liman. Man könne nur noch auf eine gewisse Grundstruktur an Synapsenverschaltungen zurückgreifen, die das Gehirn als Kind angelegt hat. Über die Jahre ohne Übung aber wurden einige ungenutzte Verbindungen abgeschaltet. Ob Radfahren oder WM-Tor – alles kein Zufall.